Der zweite Blick - Erzgebirge 1984 und 2024

Ein strahlend weißes Schild mit blauer Schrift grüßt am Ortseingang des Luftkurortes Oberwiesenthal. „Unserer Heimat – meine Tat“. Spärlich bewaldet erhebt sich dahinter der Fichtelberg, zerschnitten von Abfahrtsschneisen und Liftanlagen. Der Gipfel hüllt sich in Wolken. Vor mehr als dreißig Jahren erholte mich hier in den Wälder von chronischer Bronchitis. Jetzt tränen uns die Augen, die Nase läuft ständig und ein rauchiger Schmerz breitet sich im Rachen aus. Das kommt vom Böhmischen Wind, sagen die Einheimischen; Inversionswetterlage nennen es die Meteorologen.

Auf dem menschenleeren Bahnhof geben wir unsere Rucksäcke ab. Der Bahnbeamte hat Zeit. Der nächste Zug nach Cranzahl kommt erst in einer Stunde. „Drei Jahre habe ich noch bis zur Rente, doch erleben werde ich sie sicher nicht mehr.“ Müde lächelt der Mann mit der roten Mütze. „Die Luft macht uns kaputt, so ungesund war es hier noch nie.“ Er erzählt uns von seinem Nachbarn, der äußerlich kerngesund, vor drei Wochen plötzlich an Kreislaufversagen gestorben ist. Dabei joggte er jeden Tag, fuhr im Winter Ski, rauchte nicht und trank kaum Alkohol. „Vielleicht war er zu viel an der Luft“, sinniert der Reichsbahner. „Hier fallen ja schon die Kühe tot auf der Weide um.“ Und weshalb ziehen Sie nicht weg von hier?, wollen wir wissen. „Wohin? Ich bin hier geboren, das ist meine Heimat. Ich kann sie nicht verlassen.“

(Auszug aus dem Tagebuch, aufgezeichnet 1984)

Seither Jahren ist es still geworden um das Thema Waldsterben. Denn die Luftverschmutzungen reduzierten sich und die Wismut-Halden wurden saniert. Die neu gepflanzten und rauchresistent gezüchteten Bäume füllen die Waldlücken. Insofern kann dies auch als Erfolgsgeschichte nach der deutschen Wiedervereinigung gelten. Doch inzwischen sterben wieder Bäume. Bedingt durch Klimawandel mit extremer Trockenheit, starker Hitze und durch Stürme werden die Bäume wieder krank und damit ein willkommenes Opfer für Schädlinge wie Nonne, Buchdrucker und Borkenkäfer.

Deshalb fotografiere ich Landschaften nach 40 Jahren am selben Ort nochmals, dokumentiere Zeitgeschichte und biete Vergleiche zwischen der permanenten Zerstörung der Natur durch Umwelt- und Klimaeinflüsse und den Bemühungen, sie zu erhalten. In diesem Projekt, das von der Kulturstiftung Sachsen 2024 gefördert wurde, soll sich beides mit einem Blick erfassen lassen.

 

Während Menschen durch Wälder streifen, verändert sich ihr Leben und sie treten verwandelt wieder heraus (Shakespeare)