Eine Bilanz - Erzgebirge 1984 und 2014

Ein strahlend weißes Schild mit blauer Schrift grüßt am Ortseingang des Luftkurortes Oberwiesenthal. „Unserer Heimat – meine Tat“. Spärlich bewaldet erhebt sich dahinter der Fichtelberg, zerschnitten von Abfahrtsschneisen und Liftanlagen. Der Gipfel hüllt sich in Wolken. Vor mehr als dreißig Jahren erholte mich hier in den Wälder von chronischer Bronchitis. Jetzt tränen uns die Augen, die Nase läuft ständig und ein rauchiger Schmerz breitet sich im Rachen aus. Das kommt vom Böhmischen Wind, sagen die Einheimischen; Inversionswetterlage nennen es die Meteorologen.

Auf dem menschenleeren Bahnhof geben wir unsere Rucksäcke ab. Der Bahnbeamte hat Zeit. Der nächste Zug nach Cranzahl kommt erst in einer Stunde. „Drei Jahre habe ich noch bis zur Rente, doch erleben werde ich sie sicher nicht mehr.“ Müde lächelt der Mann mit der roten Mütze. „Die Luft macht uns kaputt, so ungesund war es hier noch nie.“ Er erzählt uns von seinem Nachbarn, der äußerlich kerngesund, vor drei Wochen plötzlich an Kreislaufversagen gestorben ist. Dabei joggte er jeden Tag, fuhr im Winter Ski, rauchte nicht und trank kaum Alkohol. „Vielleicht war er zu viel an der Luft“, sinniert der Reichsbahner. „Hier fallen ja schon die Kühe tot auf der Weide um.“ Und weshalb ziehen Sie nicht weg von hier?, wollen wir wissen. „Wohin? Ich bin hier geboren, das ist meine Heimat. Ich kann sie nicht verlassen.“

(Auszug aus dem Tagebuch, aufgezeichnet 1984)

Während Menschen durch Wälder streifen, verändert sich ihr Leben und sie treten verwandelt wieder heraus (Shakespeare)