Digitale Verlängerung des 4. Sächsischen Landesausstellung

Artikel von Roland Hensel, erschienen in den VDI-Nachrichten 6. November 2020

Mit der Ausstellung „Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“ feiert sich das Bundesland neu

Die Sachsen sind von jeher ‚fischelant‘. Das sächsische ‚Wort des Jahres 2009‘ steht für geistige Beweglichkeit, gepaart mit Tatendrang und Umtriebigkeit. Und genau mit diesen Eigenschaften wurden die Sachsen in der Vergangenheit permanent zum Innovationsmotor ihrer Zeit. Der Freistaat Sachsen feiert den Reichtum an sächsischer Industrie- und Gewerbetradition 2020 mit einem Themenjahr und der 4. Sächsischen Landesausstellung. Die vom Deutschen Hygiene-Museum Dresden kuratierte Ausstellung zieht Bilanz über 500 Jahre und präsentiert auf 2.500 Quadratmetern mehr als 600 Exponate.

In einem breiten kulturhistorischen Panorama wird die gesamte Industrialisierung, angefangen vom Bergbau und der Posamenten- und Textilindustrie bis zum Eisenbahn- und Maschinenbau und der Automobilindustrie ausgebreitet. Die Zentralausstellung ist im Audi-Bau Zwickau zu sehen, einer ehemaligen Montagehalle der Auto Union AG von 1938 und späteren Produktionsstätte des legendären Trabants vom VEB Sachsenring.

„Wenn wir von Industriekultur in Sachsen sprechen, dann geht es auch um das Image des Landes und um die Identität seiner Bewohner“, erklärt Kurator Thomas Spring, der mit seinem Team vier Jahre an dem Konzept gearbeitet hat. „Neben dem barocken Sachsen von August dem Starken liegt hier ein Wesenskern des Selbstverständnisses des Landes. Und gerade bei diesem Thema überrascht Sachsen und ist als Wiege der Industrialisierung oft Avantgarde. Das gilt bis heute.“ Dem weiten Begriff von Industriekultur entsprechend, versammelt die Zwickauer Zentralausstellung Exponate verschiedenster Herkunft. Neben einigen Maschinen, die man zu den Klassikern einer Industrieausstellung zählen würde, zeigt sie Gemälde, Skulpturen und Architekturmodelle, präsentiert Warenproben und Dokumente und stellt Bücher, Plakate, Fotos und Filme vor.

Die Arbeit des Bergmanns wird gleich am Anfang der Ausstellung ikonografisch aus Sicht des 1521 fertig gestellten Annaberger Bergaltars in der Videoinstallation „Ausbeutung oder Wie man die Oberfläche durchbricht“ dargestellt. Aus gutem Grund kann man das mit den reichen Silberfunden ausgelöste „Zweite Berggeschrey“ im Jahr 1470 als Initialzündung nehmen, die Sachsen zum ersten und wichtigsten Zentrum der europäischen Industrialisierung machte. Es lockte Menschen aus ganz Europa an und führte zu einer beispiellosen Boom-Phase. Die Früchte der bergmännischen Arbeit sicherten den sächsischen Kurfürsten ihren Reichtum. August der Starke krönte seine barocke Machtentfaltung mit der Entdeckung des weißen Porzellans, das damals wie Gold gehandelt wurde. Deshalb steht gleich nebenan ein Tafelaufsatz der Meißner Porzellanmanufaktur von 1782 mit einer großen Bergwerksgruppe.

Dank der reichen Silber- und Erzvorkommen wurde das Erzgebirge im Verlauf der Jahrhunderte auch das am dichtesten besiedelte europäische Mittelgebirge. Sein über Jahrhunderte innovatives Berg- und Hüttenwesen schuf letztendlich auch die Grundlagen für den frühen Beginn der Industrialisierung Sachsens ab Ende des 18. Jahrhunderts. Als sowjetische Geologen 1946 Uranerz im Erzgebirge fanden, beginnt das „Dritte Berggeschrei“. Unter dem Tarnnamen Wismut wurde ein sowjetisch-deutscher Bergwerksbetrieb aus dem Boden gestampft, der eines der weltgrößten Uranvorkommen rücksichtlos ausbeutete. Die Ausstellung zeigt dazu ein technisches Kuriosum: Eine Schreibmaschine des VEB Optima aus dem Jahr 1959 mit getrennter deutscher und kyrillischer Tastatur, aber gemeinsamer Walze. Damit war es möglich, zweisprachige Dokumente zu erstellen.

Trotz der Rückschläge, z.B. im Siebenjährigen Krieg gelingt es immer wieder – etwa während des Nationalsozialismus und dann der DDR-Planwirtschaft – die sächsische Industrie voranzutreiben. Optimistisch stimmen deshalb im letzten Ausstellungsabschnitt die raumfüllenden Videoinstallationen, in denen Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens ihre Antworten auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft geben.

Neben der Technikpräsentation stellt die Ausstellung stets den Bezug zu den Menschen, die dahinterstehen. Exemplarisch wird dies am Beispiel der Textilindustrie gezeigt, mit der Sachsen zum Industrieland aufstieg. Waren es am Anfang vorindustrielle Strukturen in der heimischen Stube, so entstanden mit dem Verlagssystem von Barbara Uthmann Manufakturen und später Familiendynastien wie die Strumpfwirkerei der Familie Esche, deren Geschäftsbeziehungen weltweit führend waren.

Das ging nicht ohne Konflikte ab, woran die Ausstellung ebenfalls erinnert: In den Jahren 19,3 und 19,4 streikten in Crimmitschau 600 Männer und Frauen 22 Wochen vergeblich für eine Begrenzung der Arbeitszeit auf zehn Stunden täglich, 5600 Arbeiter wurden ausgesperrt. Viel später entwickelten Tüftler wie Heinrich Mauersberger Maschinen, die die Textilindustrie der DDR revolutionierten. Und wenn es etwas nicht gab, konstruierte man aus Baumarktteilen eine automatische Sägeschärfmaschine, wie es der Zimmermann Siegfried Kühne tat.

Dass die Sachsen „figilant“ sind, bewiesen sie zum Beispiel mit den Erfindungen des Porzellans, der Tageszeitung, des BHs, der Spiegelreflexkamera, der Trommelwaschmaschine, des Teebeutels, der Kaffeefiltertüte, des Mundwassers, der Zahncreme und des FCKW-freien Kühlschranks.

Die Zentralausstellung ist eine Liebeserklärung an Sachsen, denn sie zeigt, wie die Menschen trotz aller Auf- und Abstiege mit Mut und Ideen das Land voranbrachten. Als Anerkennung für derartige Leistungen wurde die deutsch-tschechische Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří zum Unesco Weltkulturerbe erhoben.

„Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen“. Die Zentralausstellung ist noch bis zum 31. Dezember im Audi-Bau Zwickau, Audistraße 9 zu sehen. Der umfangreiche Katalog ist im Sandstein Verlag erschienen und kostet in der Ausstellung 19,90 Euro, im Buchhandel 29 Euro.